In der Schwebe gehalten. Zu Meinhard Schultes Resonanzräumen zwischen Konkretheit und Abstraktion

Die besondere Anziehungskraft, die Meinhard Schultes Gemälde ausüben, lassen sich durch Reproduktionen nur schwer zum Ausdruck bringen. Der Glanz des Öls, mit dem die Farbpigmente gebunden werden, und die unterschiedlichen Farbnuancen, die Schulte durch das Einsetzen von Lasuren erreicht, transportieren sich vor den Originalen naturgemäß besser als durch die besten Abbildungen. Immer wieder schimmern dünne Farbschichten, die unter der obersten Haut der Bilder liegen, durch die Oberfläche hindurch und erzeugen leuchtende Farbräume, die den Blick des Betrachters fesseln. Es entstehen sanfte Farbübergänge wie auch harte Kanten. Farbfelder gehen ebenso ineinander über oder grenzen sich deutlich voneinander ab. Durch die Überlagerungen von Farbschichten und das bewusste Stehenlassen von vorausgegangenen Malprozessen entstehen feine, teilweise lineare Abgrenzungen zwischen den einzelnen Flächen, die die übrigen Felder zu Farbräumen werden lassen. Gleichzeitig brechen gestische Pinselstriche den zarten Farbauftrag oder stellen sich ihm entgegen. So knüpfen Schultes Gemälde einerseits an die Tradition der Farbfeldmalerei seit Mitte des 20. Jahrhunderts an, lassen neben einer rein phänomenologischen Wahrnehmung von Farben und Farbräumen aber andererseits auch an Naturbeobachtungen denken, bei denen die zuvor genannten Abgrenzungen wie Horizontlinien oder natürliche Grenzen wirken. Schulte lässt sich in der Tat für seine Werke von Eindrücken und Erfahrungen in der freien Natur inspirieren. Er kehrt vermehrt an Strände Dänemarks zurück, um nicht nur „abschalten“ zu können, sondern auch Inspirationen für seine künstlerische Arbeit zu bekommen. Diese Information dient nicht dazu, eine weitere Künstleranekdote zu erzählen, sondern steht in engem Zusammenhang mit Schultes Prozess der Motivwahl und der Bildfindung. Dies zeigt sich an verschiedenen Stellen seines Œuvres.

Bei Schultes Zeichnungen handelt es sich häufig um spontane, in situ entstandene Momentaufnahmen, beispielsweise vom nächtlichen Himmel, der Gischt des Meeres oder Lichtreflexen auf der Wasseroberfläche. Den Zeichnungen sieht man ihre Leichtigkeit durch den schnellen Strich an, mit dem Schulte den Stift, die Kohle oder den Pinsel zügig und zugleich pointiert über das Blatt gleiten lässt. Diese Zeichnungen sind nicht nur Momentaufnahmen des Gesehenen, sie schaffen es darüber hinaus, die Atmosphäre des Ephemeren einzufangen. Dies gelingt Schulte – sowohl bei vielen seiner Papierarbeiten als auch bei Gemälden auf Leinwand und Holz – durch die Auflösung des Gegenstands mit malerischen und zeichnerischen Mitteln: Farben auf dem Bildträger sind nicht zwangsläufig die Erscheinungsfarben, die in der Natur vorherrschen, sondern verdichten sich zu Ausdrucksfarben, die Stimmungen und ein gefühlsmäßiges, unbestimmtes Eindruckserlebnis beschreiben.

Die Zeichnungen sind zwar autonome Arbeiten, können allerdings gleichzeitig als Skizzen oder Studien für Schultes großformatigere Arbeiten in Öl oder Acryl verstanden werden. In den Papierarbeiten werden Momente festgehalten, ohne jedoch die Situation vor Ort mimetisch getreu wiederzugeben. Sie dienen ihm vielmehr als Findungsprozess und Genese eines gewissen Formenkanons, der sich wiederum in den Gemälden niederschlägt. Dabei handelt es sich nicht um bloße Übertragungen der Skizzen oder Studien auf ein größeres Format, sondern um Anstöße zu neuen Bildwerdungsprozessen. Dabei spielt das Nichtgelingen eine ebenso wichtige Rolle wie das Gelingen. In einem stetigen Prozess werden die Farben, Flächen und Formen überarbeitet, überschrieben, angepasst. Dieser Vorgang ist dabei nicht völlig aleatorisch; die malerischen Eingriffe bei der Bildfindung orientieren sich an einem inneren Bildrepertoire. Die anhaltende Überarbeitung, Änderungen und das partielle Zerstören sind Aspekte und Teile des Schaffensprozesses von Schulte, der Freiheiten erzeugt und zu neuen Lösungen führen kann.

Diese Lösungen Schultes sind häufig von der Dialektik zwischen Konkretheit und Abstraktion geprägt. Das gilt sowohl für die Arbeiten, die sich dem Phänomen des Mond widmen – besonders der Serie Ecco la luna – als auch für Schultes Gemälde: Ein orange-roter Halbkreis vor nachtblauem Grund, nach rechts abfallend und durch überlagerte Grau- und Blautöne begrenzt, ist ebenso Form-und vor allem Farbstudie wie auch die Darstellung eines Blutmondes über unruhiger See; ein leuchtend gelber Halbkreis, der über drei kurzen, hellen Waagrechten vor schwarzblauem Grund schwebt – sowohl ein Vollmond samt seiner gebrochenen Reflexionen über dem Meer als auch völlig ungegenständliche Farbkomposition.

Auch wenn in den Arbeiten der letzten Jahre eine gewisse Horizontbezogenheit festzustellen ist, bleibt durchaus offen, was der Horizont im jeweiligen Falle meint. Exemplarisch sei an dieser Stelle ohne Titel genannt . Der hellgrauen, bläulich schimmernden, horizontal verlaufenden Fläche am oberen Bildrand steht eine dunkelblaue, ebenso horizontal verlaufende Farbfläche im unteren Bildteil entgegen. Begrenzt werden beide von verschiedenen Übergangsstufen: Die dunkelblaue Fläche wird stärker von einem rosafarbenen, mit Ocker versetzten Inkarnatston begrenzt als das obere Graublau, das sanfter in einen ähnlichen rötlichen Farbton übergeht. Zwischen diesen beiden Sphären erhebt sich auf der querformatigen Arbeit eine pastos aufgetragene Fläche aus verschiedenen Nuancen von Weiß, in das sich immer wieder gelbe und blaue Pinselstriche mischen und sich mit ihr verbinden. Die Übergänge vom Blau zum fleischfarbenen Ton erscheinen wie zwei Horizontlinien. Handelt es sich um eine Wolkenformation, die vor morgenrotem Himmel über ein dunkel Gewässer zieht oder zeigt sich hier nicht doch eher die Gischt eines tosenden Meeres, das von einem kleinen Streifen Land von einer stillen Bucht getrennt wird? Beide Lesarten sind möglich, ebenso wie eine dritte. Die dritte Lesart ist völlig vom Gegenstand befreit und kann als künstlerische Auseinandersetzung mit Farbe, Raum und Fläche gedeutet werden.

Genau diese Ambivalenz ist es, die Schulte interessiert und die er erzeugen möchte. Licht- und Wasserbewegungen interessieren ihn ebenso wie die Materialität und der Gehalt von Farbe, ihre Wirkung und Erscheinung. Er schafft Anmutungen von Erinnerungen und eröffnet zahlreiche Assoziationen. Seine Bilder öffnen Möglichkeitsräume und rufen Reaktionen hervor, die sich auf das Dargestellte wie auf das Darstellende beziehen. Sie bleiben bewusst uneindeutig und halten die Darstellung mit ihrer Ambiguität bewusst in der Schwebe. Meinhard Schulte erzeugt somit auf den Betrachter angelegte Resonanzräume, die zwischen Konkretheit und Abstraktion schwingen, und stärker als nur einen Moment widerhallen.

Benedikt Fahrnschon